Europa und der Stier

 

Es regnet. Es schüttet, genau genommen. Und mit einem Mal sind alle Security Guards verschwunden. Die grüne Parkanlage vor ihr ist menschenleer. Zurück ins Museum will sie auch nicht. Unter einem Nationalmuseum hatte sie sich etwas anderes vorgestellt, als eine auf sechs Etagen verteilte Ansammlung von Plastikfischen, Kunststoffmenschen und 100 Jahre alten ausgestopften Tieren.

Schräg gegenüber, am anderen Ende des Parks liegt die South African National Gallery.

Sie zieht ein Stück ihrer Jacke über den Kopf und geht los in den Regen.

Plötzlich, wie aus dem Nichts, taucht ein junges Mädchen mit ausgefranster Hose und schmutzigem Rucksack vor ihr auf, schlurft ein paar Meter vor ihr über den Weg. Stoned. Das Mädchen wendet den Kopf in ihre Richtung und schreit dann jäh: „Leave me alone! Leave me alone!“  Erschrocken dreht sie sich um. Hinter ihr her geht jetzt ein junger Mann mit weit aufgerissenen dunklen Augen und verwirrtem Gesichtsausdruck. Schnell biegt sie nach links in Richtung Museum ab, aber als sie sich noch einmal umdreht, trifft ihr Blick seine Augen wieder. „Leave me alone“, schreit das Mädchen. „Leave me alone! Leave me alone!!!” 

Sie umklammert ihre Handtasche und zwingt sich, mit ruhigen Schritten weiter zum Museum zu gehen.

An den Wänden des ersten Ausstellungsraumes findet sie Zeichnungen einer Ethnologin, die Trachten und Menschen aller Altersklassen aus vielen verschiedenen afrikanischen Stämmen festgehalten hat. Miniaturen aus harten Strichen und bunten Farben. In der zweiten Halle wird ein alter südafrikanischer Maler präsentiert, der seine Heimatstadt in der Nähe des Kaps, aus der seine Familie von Weißen vertrieben worden war, Jahr für Jahr in Frühling, Sommer, Herbst und Winter dargestellt hat. Immer wieder, immer wieder. In einer abgedunkelten, quadratischen Kammer in der Mitte des Museums läuft ein Film über ihn.

Der nächste Raum enthält einen Haufen Steine mit Treibholz dazwischen. Fotos davon, das Treibholz jeweils verschieden angeordnet, hängen an den Wänden. Das Werk eines jungen weißen Künstlers. Er ist bereits sehr berühmt, vor allem wegen der Fotos.

Sie betritt die nächste Ausstellungshalle. Über dem Durchgang klebt ein Schild: „Young South African Artists“. Der Raum bietet mehreren großen Skulpturen Platz, doch ihr Blick bleibt an einem Bild hängen. Ein Foto. Ein Selbstporträt der Künstlerin. Der schöne, schwarze Kopf trägt den Schopf und die mächtigen spitzen Hörner eines Stieres. Das Stierhaar ist so auf der Stirn befestigt, dass es aussieht, als gehe es direkt in die Augenbrauen über. Die großen, schwarzen Augen sind blutunterlaufen und weit aufgerissen, der Mund leicht geöffnet. 

Die glatten, schwarzen Schultern neigen sich leicht schräg nach vorn, so dass der gesamte Kopf eine herausfordernde Haltung einnimmt. „Nandipha Mntambo – Europa“ steht auf dem Schild daneben.

 

Europa, denkt sie.

Europa, die entführte Frau und ihr Entführer, der Stier.

Diese schwarze Europa ist der zugleich der Stier.

Der Stier ist der Gott Zeus.

Dieser Zeus ist schwarz.

Stark, schön, wütend und schwarz.

Nandiphas Gruß an Europa. Oh ja. So könnte es einmal sein.

 

Ein Gong erklingt. Das Museum schließt in zehn Minuten. Im Museumsshop möchte sie eine Postkarte von „Europa“ kaufen, aber die gibt es nicht. Auch von dem alten Maler mit den vielen Bildern von der Stadt am Kap wird nichts angeboten. Nur Postkarten mit Bildern der Ethnologin und des Treibholz-und-Steine-Künstlers verkaufen sie hier.

Sie verlässt das Museum. Es regnet nicht mehr. Der Park ist immer noch menschenleer. Bei jedem Schritt quetscht sie das Wasser aus der nassen Erde des Gehweges. Sie geht vorbei am Museum für jüdische Kunst und ist plötzlich auf einer großen Straße. Auch diese Straße ist wie leergefegt. Da, ganz am anderen Ende hocken der Mann und das Mädchen. Jetzt stehen sie auf und bewegen sich in ihre Richtung. Aus der Gegenrichtung kommt ein roter Doppeldecker langsam näher – Touristenbusse fahren hier sogar am Ostermontag.

Sie springt auf die Straße, fuchtelt mit den Armen und ruft laut: „Stop here, please stop!!“. Der einheimische Fahrer hält an, obwohl hier keine Haltestelle ist, und lässt sie einsteigen. „Ich möchte zurück zur Waterfront“, sagt sie. „Sorry“, antwortet er. „Sie müssen die ganze Tour machen: Durch die Stadt, hinauf zum Tafelberg, zurück an der Küste entlang und dann erst zur Waterfront. Macht 120 Rand.“ Der Bus ist schon angefahren. Ein paar verlorene europäische Touristen sitzen da. „Kein Problem“, sagt sie zu dem Busfahrer. „Wirklich, kein Problem“. Und sie zieht ihr Portemonnaie.

 

© Dorothee Hövel-Kleibrink, erschienen in Blickwinkel, Hrsg. U. Lösken und M. Buchfeld, 2013